Samstag, 19. Mai 2012
Liberales Brevier
Wie komme ich als Liberaler durchs Leben? Oder: Auf der Suche nach einem Brevier für Liberale
Aktuelle Betrachtungen zur Lage des Liberalismus in Deutschland:

Juni 2011:
Klientelpartei, Staatspartei, Hure, Karrieristen-, Besserverdiener-Partei, Umfallerpartei usw. usw. Wer sich heute zu einer FDP-Mitgliedschaft bekennt, kann sich auf viel Gegenwind und vor allem Unverständnis gefasst machen.
Und jedes FDP-Mitglied selbst findet genügend Anlässe, den Kopf über seine Partei und ParteikollegInnen zu schütteln. Hier einige willkürlich heraus gepickte Beispiele: Da schlägt z.B. im frühen Jahr 2011 eine Suchtbeauftragte der Bundesregierung vor, Spielautomaten in Kneipen zu verbieten. Da tritt ein FDP-Abgeordneter aus Hamburg in der Aktuellen Stunde zur Plagiatsaffäre zu Guttenberg ans Rednerpult und glänzt mit dem Hinweis, ob es nichts Wichtigeres gäbe. Da hat eine FDP-Fraktion nach dem Wahlsieg nichts Dringlicheres zu tun, als die Hoteliers steuerlich zu begünstigen und für die Bewältigung der Finanz- und Währungskrise stimmen liberale Politiker einer “alternativlosen” Politik der Bürgschaft oder besser und letztlich, der Sozialisierung der Schulden zu. Und man verhindert zunächst nicht, dass eine des Plagiats überführte Frau Ex-Doktor in den Forschungsausschuss des Europaparlaments gewählt wird. Und so steht eine neue, junge Führungsgarde der FDP wie eine betröpelte Kinderschar da.
Offenbar stehen die heutigen Liberalen den Zeitläuften überfordert gegenüber. Woran liegt das? Und so stelle ich mir seit geraumer Zeit angesichts dieser Geschehnisse die Frage: Wo finde ich eine eindeutige liberale Handschrift in der Politik, in der Wirtschaft, in der Bildung und im gesamten Lebensalltag, die nach außen erkennbar wäre und meinen Vorstellungen von Liberalität entspräche? Wer vertritt überhaupt noch in seiner ganzen Person und Haltung und auf hohem intellektuellem Niveau Liberalität? Wo oder wer sind die großen Liberalen unserer Zeit? Mir fällt dazu kein aktueller Politiker ein. Brüderle, der nicht von der Macht lassen kann, erscheint mir als eine Mischung von Weinfest und Phrasendreschmaschine, Westerwelle als roboterhafte Billigkopie eines Möchtegernstaatsmannes, und unsere liberalen Politikerinnen glänzen mehr durch Make up als durch durchdachte liberale Positionen. Grinsen ist noch keine Politik. Und Freundlichkeit kein Programm.
Mit Philipp Rösler hat die FDP nunmehr einen Liberalen “mit katholischer Bindung” an der Spitze. Kann das überhaupt funktionieren? Ist dafür im politischen Koordinatensystem nicht die CSU und CDU zuständig gewesen?
Statt gestandener Liberalität begegnet mir im sog. liberalen Dunst also eher Konfusion und eine Unzahl von Karrieristen, Strippenziehern und Viertelgebildeten, die allein ihrem persönlichen Vorteil hinterher hecheln und Krawatten und Aktienportefeuilles als Ausweis gelingenden liberalen Lebens betrachten.
In den Schriften Dahrendorfs, Euckens, Flachs und anderer historischer Größen des Liberalismus kann man ihn noch spüren, sozusagen einatmen, diesen Geist, diese Haltung im Liberalismus, die Respekt erheischt und eine Ahnung vom Wert eines liberalen Lebens in Freiheit und Verantwortung aufkommen lässt.
In der aktuellen Landschaft obsiegt derzeit einzig die Beliebigkeit. Liberalität wird vielfach gleich gesetzt mit dem Denken, jeder könne tun, was er will. Ein merkwürdig verzerrter Freiheitsbegriff.
Freiheit zu, Befreiung von, Verantwortung und freiheitliche Prinzipien, Würde und Respekt, ist das alles so schwer zu leben in unserer Zeit?
Warum gibt es z.B. nicht eine Ampel für liberale Positionen, so wie für den Gesundheitsgehalt von Lebensmitteln in England? Wo ist der Liberal-Watch? Ähnlich dem Abgeordneten-Watch. Wer baut ein Liberal-Leak im Netz auf? Wer sorgt also dafür, dass Liberalität eine überprüfbare, diskutierbare Haltung wird? Denn nur so lässt sich verhindern, dass sog. Liberale so viel Illiberales, so viel Schwachsinniges und so viel Falsches und Oberflächliches von sich geben. Wir müssen mit einander darum streiten, ob wir Liberalität wirklich leben und zur Geltung bringen.
Der erste Einwand, der an dieser Stelle kommen wird, wird sein, wie man auf die Idee einer Ampel als Liberaler überhaupt kommen könne. Dies sei in sich schon eine unzulässige, illiberale Vorgabe. Schließlich sei Liberalität kein ideologisches System, sondern das Gegenteil, nämlich eine offene Haltung der Freiheit, so etwas könne man nicht einfach in rot gelb und grün einteilen. Touché! Und doch, das was wir brauchen, ist eine konsequente Auseinandersetzung mit Positionen und Haltungen im diskursiven Prozess, die sich um ein Urteil, so bedingt offen es immer sein muss, nicht herum drückt. Es gibt zwar keine absolute Wahrheit, aber es gibt das Prinzip der Falsifizierbarkeit und das kann auch an sog. liberalen Positionen zur Geltung kommen.
Ein Konzept der Beliebigkeit hat nichts mit Liberalität zu tun und es ist, zwar mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit, sehr wohl möglich, konkret und diskursiv zu ermitteln, ob eine politische Position liberalem Denken entspricht oder nicht.
Sucht man einen Diskurs über Liberalität, benötige ich ein Rüstzeug, über das ich mich zusammen mit den DiskursteilnehmerInnen zumindest in den Grundzügen im Klaren sein sollte. So wird ein Liberaler immer ein Gegner totalitärer Anschauungen sein. Ein Liberaler tritt für eine offene Gesellschaft ein. Aber ohne Grenzen wird sie auch nicht sein, daher wird er um die Grenzen hart ringen und sie immer wieder im Geiste der Freiheit und Verantwortung hinterfragen müssen.
Wenn ich über Freiheit als Wert spreche, dann bin ich als Liberaler geprägt von einem bestimmten Verständnis von Menschsein und Gesellschaft. Der Mensch ist aus liberaler Sicht unzweifelhaft ein fehlerbehaftetes Wesen und ein Wesen im Spannungsbogen von Vernunft und Emotion. Die Idee eines neuen Menschen, immer wieder beschworen, ist ob seiner totalitären und inhumanen Implikationen keine Leitidee für Liberale. Wir akzeptieren den Menschen in seinem Hier- und Sosein, aber dazu gehört auch die Fähigkeit zur Reflexion und Verantwortungsübernahme und daraus entlassen wir Liberale uns nicht, möge auch manches mal die Emotion über die Vernunft siegen.
Wenn ich nicht in der Lage sein sollte, solche Grundzüge liberaler Haltung und liberalen Denkens für mich zu akzeptieren, sollte ich nicht das Konzept Liberalität beanspruchen.

Es geht hier nicht darum, den Liberalismus neu zu erfinden. Vielmehr möchte ich meinen persönlichen Anstoß zu einem das liberale öffentliche Leben wieder belebenden Diskurs geben. Und zwar jenseits von Websites, die die Partei steuert. Sagen wir laut nein und sagen wir laut ja, wenn Menschen etwas unverstanden oder fälschlich als liberal ausgeben oder Menschen sehr wohl liberal handeln, unabhängig davon, ob sie sich selbst so sehen oder nicht.
Allerdings wird das eine oder andere in der Bestimmung eines liberalen Lebenskonzeptes meinem subjektiven Verständnis von Welt entsprechen und nicht notwendig überall auf Übereinstimmung stoßen.
Es fängt vermutlich schon damit an, dass ich für meine Wesensbestimmung kein konkretes Gottesbild benötige, aus dem ich heraus meine moralisch begründete Existenz ableite. Ich glaube an keine Ewigkeit meines personalen Ichs, einige würden von Seele sprechen. Wer glaubt, er könne mit seinem Ich sich in der Ewigkeit aufhalten, bleibt einem infantilen Weltverständnis verbunden. Alles Leben kommt, alles Leben geht und doch gibt es für jeden Mensch eine daraus folgende Verantwortlichkeit sich, seiner Gattung und der Welt hier und im Kosmos gegenüber.Marc Aurel spricht in seinen Selbstbetrachtungen zu Recht von der Anbindung des Seins an die Allnatur.
Für mich folgt der Naturprozess einem klaren Ziel, ohne dabei Fortschritt per se garantieren zu können, denn die Natur hat Zeit und Raum für Irrtümer und vielleicht ist die Menschheit auch nur ein Irrtums-Versuch, wenn sie ihre Rolle nicht annimmt, und dieses Ziel besteht in der Selbstrepräsentation. D.h., die Natur will Bewusstsein über sich selbst erlangen und wir sind gegenwärtig die Krönung dieses Schöpfungsprozesses und wir haben diese Aufgabe anzunehmen, selbst wenn wir erkennen, dass wir nur ein Versuch unter anderen sein sollten.
Fortschritt ist für die Menschheit bislang gewissermaßen eine Geschichte der Kränkung gewesen. Wir mussten oder besser, durften erkennen, wir sind nicht der Mittelpunkt der Welt, wir sind erwachsen aus der Evolution, wir sind endlich, unsere Welt ist endlich usw. usw. Die Geschichte der Entzauberung der Welt ist sehr umfassend und vermutlich noch nicht zu Ende durchdekliniert. Geschichte ist nicht linear in ihrem Verlauf. So ist das magische Denken, und sei es in Form des sog. amerikanisch postulierten “positiven Denkens”, immer wieder eine Gefährdung unserer Möglichkeiten einer aufgeklärten Selbstrepräsentation der Welt. Solche Rückschläge und Seitwärtsbewegungen werden immer wieder auftreten, jedoch gilt es, den Weg nach vorne, zur Aufklärung, zur Vernunft, nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade auch in schweren Zeiten.
Das japanische Unglück von März 2011 mit Erdbeben, Tsunami und dem Ausfall der Fukushima-Reaktoren ist insoweit ein hervorragendes Exempel, hieran eine liberale Haltung heraus zu arbeiten. Es geht um existenzielle Fragen für die Menschheit und den Planeten Erde, ohne Zweifel. Wie aber kann ein solches Thema ohne Überdehnung unseres individuellen “Verantwortungs- und Moralhorizontes” in ein liberales Politikkonzept hier und jetzt in Deutschland übersetzt werden? Obwohl Deutschland mehr als 8000 km von Japan entfernt liegt, hat dieses Unglück vier Wochen später die politische Landschaft umgepflügt. Die Kanzlerin tritt nur wenige Monate nach der Erklärung ihrer neuen Energiepolitik mit verlängerten Laufzeiten plötzlich für ein Moratorium ein, dann werden gleich sieben Kraftwerke vorläufig und für nicht wenige Politiker endgültig still gelegt, da erklären liberale Spitzenpolitiker plötzlich den Atomausstieg zu ihrem Credo, die Grünen stoßen bei Wahlen und Umfragen in neue Ergebnishöhen vor, die ihnen sogar den ersten grünen Ministerpräsidenten beschert und die FDP sieht sich genötigt, ihren lange Zeit so erfolgreichen Vorsitzenden Westerwelle von seinem heißgeliebten Sockel zu stoßen.
Die Kanzlerin beruft eine Ethikkommission und der Umweltminister Röttgen hofft auf einen gesellschaftlichen Konsens unter Einschluss von SPD und Grünen für eine neue Energiepolitik. Und letztendlich wird erneut der Ausstieg beschlossen und die Grünen wissen nicht, was sie davon und wie sie sich dazu verhalten sollen. Ihr Entschluss für eine prinzipielle Zustimmung ließe sich als letzter Reifungsakt einer ehemaligen Protestbewegung beschreiben.Ich stehe diesen Ereignissen mit einer gewissen Erschütterung gegenüber. Weder kann ich als ehemaliger Japanbereisender noch als Liberaler diesen Entwicklungen gegenüber gleichgültig sein. Wer sich mit der japanischen Kultur und Shinto-Religion befasst hat, wird nicht wirklich überrascht sein können von den Reaktionsweisen der Japaner, die mit ihrer Geduld und Leidensfähigkeit insbesondere westliche Beobachter so sehr erstaunen. Tsunamis, Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Hungersnöte gehören zur kollektiven japanischen Erfahrung. Das Leben ist flüchtig und Schutz bietet in besonderem Maße nur das Kollektiv. Dieses Bewußtsein hat sich über die Jahrtausende in das kollektive Gedächtnis der Bewohner dieses Archipels eingebrannt. Und Technik ist ein Weg, die Natur zu beherrschen. Diesen Weg sind die Japaner mit der Atomtechnik gegangen, trotz Hiroshima und Nagasaki, getrieben von dem Glauben, dass das atomare Unglück eine politische Folge war, die Kraftwerke aber eine beherrschbare technische Frage.
Wer sollte hier den ersten Stein werfen? Ich bin gespannt, welche Lehren Japan ziehen wird. Deutschland ist ohne Zweifel auch eine führende Techniknation, jedoch ist unsere Gesellschaft von erheblichen inneren Zweifeln geplagt, schon Tönnies hat dies vor mehr als einem Jahrhundert als die Kluft zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft beschrieben, als die Kluft zwischen Bewahrung der Natur und der Lebensumstände und das Eintreten für Fortschritt. Fortschritt ist nicht immer nur Aussicht auf eine wunderschöne neue Welt, Fortschritt macht auch Angst, häufig berechtigte Angst. Und mit diesem Momentum hat auch ein Liberaler vernünftig umzugehen. Allerdings wird sich ein Liberaler nicht in der Entwicklung einer Haltung von emotionalen Ausnahmezuständen bestimmen lassen. Letzteres dürfte aber bei der politischen Klasse unseres Landes von den Liberalen bis zu den Christdemokraten am ehesten die politischen Volten, die sie derzeit schlagen, erklären.
Japan bringt eine Zäsur. Das Restrisiko kann man in Zukunft nicht mehr in der bisherigen Form bestimmen. Die Folgen unserer Atomtechnik sind derzeit weder beherrschbar noch hinnehmbar. Ist die logische Folge dann der völlige Ausstieg aus der Atomtechnik? Zuerst ist fest zu halten, dass es keinen Ausstieg aus den Folgen dieser Technik von Heute auf Morgen geben kann. Die Entsorgungsfrage ist hierfür genauso verantwortlich, wie die nicht verkürzbaren Halbwertzeiten und das notwendige Abklingen von Brennelementen, die auch noch in ihren Abklingbecken eine enorme Gefahr darstellen. Ebenso wird man berücksichtigen müssen, dass alternative Energien nicht von Heute auf Morgen zur Verfügung stehen können, vermutlich auch nicht in der Lage sein werden, der Menschheit die Energie zu liefern, die sie benötigt. Und wer will sich gottähnlich darüber erheben und fordern, dass die Industrienationen in die Steinzeit zurück zu fallen haben und die armen Massen des afrikanischen oder asiatischen Kontinents sich keine Hoffnung auf Klimaanlage, sichere Mobilität und Smartphones machen dürfen?
Als Liberaler fordere ich, machen wir weiter mit der Atomforschung, versuchen wir sichere Wege in der Nutzung und Entsorgung zu finden. War möglicherweise der Schnelle Brüter von Hamm eine zu früh aufgegebene Alternative und wo sind die Bemühungen, unseren Atomschrott in die Sonne zu schießen? Ich glaube an die technischen Fähigkeiten und Perspektiven und weigere mich, alternativlos mir den Strom abstellen zu lassen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht in Deutschland. Wir müssen politisch die richtigen Forderungen an Technik und Wissenschaft stellen, die uns helfen, den ungezügelten Prozess der Ausbeutung der planetaren Ressourcen zu beenden und unsere Reproduktionsbasis durch die Eroberung der kosmischen Potentiale zu verbessern. Eine Politik der Nachhaltigkeit ist nur dann sinnvoll, wenn sie sich als Fortschrittssteuerung und nicht als- verhinderung versteht. Wem das dennoch zu risikoreich ist, dem sei versichert, dass ein sog. Stillstand oder Rückschritt zur Rettung unseres Planeten für die Menschheit auch ein Risiko darstellen wird. Leben heißt Risiko, das können wir von den Japanern lernen.
Nur wenn wir uns wieder dumm machen und einen festen Glauben an ein Leben nach dem Tod erwerben, könnten wir “glücklicher” werden. Sicher, und das zeigt der unaufhörlich produzierende Markt von Lebensberatungsbüchern und esoterischen Heilsschriften, es gibt viele, sehr viele Menschen mit der Sehnsucht nach dem richtigen Leben. Und bislang gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie diese Sehnsucht dauerhaft erfüllt bekommen. Das, was gestern richtig war, kann heute schon falsch sein. Das, was gestern bestimmend war, kann schon morgen unwichtig sein. Das Leben ist ein unkalkulierbarer Prozess. Daraus muss aber nicht folgen, dass wir uns unkalkulierbar verhalten!

Mai 2012
Nun ist auch Röttgen Geschichte. Die Kanzlerin hat Basta gemacht und Lindner, der Fahnenflüchtige, ist innerhalb weniger Wochen zur neuen Lichtgestalt der Liberalen geworden, ohne dass bislang je deutlich geworden sei, was sein “mitfühlender” Liberalismus wirklich zu bedeuten habe. Die Wiedergeburt der vielfach schon tot geglaubten FDP hat neben Lindner der liberale Regionalfürst (!?!) Kubicki, dem man gefahrlos einen Hang zum politischen Hasardeurtum nachsagen kann, letztlich nur in Abgrenzung und somit auf Kosten der Bundes-FDP betrieben.
Soll ich mich jetzt darüber freuen oder beschämen? Rösler ist ein Parteivorsitzender ohne Fortune. Zufall, Pech oder aus strukturellen oder persönlichen Gründen? Brüderle ist zum Fels in der Brandung erwachsen. Zufall, Pech oder strukturell oder persönlich bedingt? Lindner ist die neue Lichtgestalt, ob Vorsitzender des Bundes-FDP oder nicht. Zufall, Pech oder aus strukturellen oder persönlichen Gründen?
Kann die Volatilität, die wir im Bewertungsverlauf der FDP und ihrer Akteure sehen, eigentlich ohne Bezug auf den gesamtgesellschaftlichen Rahmen gesehen und beurteilt werden? Volatilität ist nicht nur eine Erscheinung an der Börse, sondern diese Börsenerscheinung selbst ist Ausdruck eines globalen Prozesses der schwankungsreichen Entwicklung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Prozesse. Die Finanz- und Schuldenkrise zeigt in ihrer globalen Verflechtung, dass wir eine neue Stufe in der Austauschgeschwindigkeit global verflochtener Prozesse und Strukturen erreicht haben. Die Nachkriegsgemütlichkeit der alten Bundesrepublik ist vorbei und kommt so nicht wieder. Nehmen wir die Solarbranche als Beispiel. Aufgepeppt durch eine staatliche Subventionspolitik hatte sich zunächst eine Goldgräberstimmung in dieser neuen Technologiebranche in Deutschland entwickelt. Die deutsche Solarindustrie boomte. Doch schon bald kamen auch die Chinesen auf den Trichter und eh wir uns versahen kam die billige Konkurrenz aus Fernost und im Zusammenklang von subventionssucht ,die zur Aufgabe eigener Anpassungsstrategien an den Wandel führte, und auftretender Überkapazitäten, geht die Vorzeigebranche offenbar schneller den Bach runter, als sie es mit Subventionen hinauf geschafft hatte. Die chinesische, früher die japanische, und jetzt auch die indische Konkurrenz ist insoweit kein neues Phänomen. Nur, noch vor wenigen Jahren gingen diese Konkurrenzprozesse, die entweder adaptiv gemeistert wurden oder eben maladaptiv per Insolvenz erlitten wurden, in einem gemächlicheren Tempo von statten. Jetzt ist nicht nur die Zahl der Akteure im Wirtschaftsprozess enorm angestiegen, sondern auch die Geschwindigkeit, in der diese wirtschaftlichen Prozesse ablaufen. Darauf muss wiederum die Politik ebenfalls immer schneller, also hektischer und zunehmend risikoreicher reagieren. Und wenn sie es nicht schafft, also maladaptiv ist, steigen auch die Wanderungsströme global an , wie gerade jetzt mit der Zuwanderung von Griechen und Spaniern nach Deutschland beispielhaft belegt werden kann. Die Folge dieser Wanderungen für die betroffenen Gesellschaften, abgebend und aufnehmend, sind ebenfalls gravierend und fordern eine kluge und reaktionstüchtige Politik heraus, was aber offenbar nicht immer oder auch nur selten gelingt, da die ansteigende Komplexität der Problemlage und der damit verbundenen Prozesse die politische Klasse und ihre Administrationen strukturell überfordert. Diese Überforderung führt wiederum dazu, dass in immer kürzeren Abständen politische Maßnahmen mit kurz- und/oder langfristigen Wirkungen aufgelegt werden, die dann jedoch der Problemlage wieder nur hinterher hinken können. Dies wird dann wiederum von einer Öffentlichkeit begleitet, die auf alles und jedes quasi in Echtzeit zu reagieren weiß und die Politik auf einen Prüfstand stellt, die nur Menschen mit guten Nerven ohne ADHS-Syndrom verkraften können. Insoweit gehen technologische, soziologische und wirtschaftliche Kräfte einen Wirkungszusammenhang ein, der die Welt für den um Information bemühten Bürger als hoch volatil erfahren lässt.
Eine Folge dieser als strukturell zu bezeichnende Überforderung des Systems und seiner Elemente, den Menschen, ist die ansteigende Neigung zu totalitären, antiaufklärerischen, komplexitätsreduzierende Weltsichten, die wiederum zu gesellschaftlichen Herausforderungen führen, die der Problemlage nun wirklich nicht gerecht werden können.
Was lehrt uns die Landtagswahl von NRW? Die Rückkehr ins alte Kartell der Parteien, nur noch durchbrochen von dem vielfach missverstandenen Phänomen der Piraten? Der Nachweis, dass Prognosen noch lange keine Wahlergebnisse sind? Oder lernen wir, dass Totgesagte länger leben? Oder sind wir Zeugen der strukturell angestiegenen Volatilität des Parteiensystems? Gibt es noch Gewissheiten alter Art? Z.B. NRW-Wahlen als Menetekel für den Politikwechsel in Berlin? Landtagswahlen als Gegenbewegung zur regierenden Mehrheit in Berlin?
Gewiss können wir den Eindruck haben, in einer hochvolatilen Zeit zu leben. Allerdings sollten wir dies nicht für ein Alleinstellungsmerkmal der Jetztzeit verstehen. Volatile Zeiten gab es immer wieder, hier einmal angefangen von den Revolutionen der Neuzeit über die Phasen der industriellen Revolution und den Umwälzungen durch Kriege und Katastrophen. Man könnte mit Karl Marx allerdings fragen, ob jetzt die Quantität in eine neue Qualität umschlägt .
Auf jeden Fall ist eine volatile Phase der Gesellschaftsentwicklung, diesmal zudem noch von einer globalen Bedrohung der klimatischen Lebensbedingungen und einer so noch nie gekannten Bevölkerungsexplosion begleitet, eine Phase der Verunsicherung, von den einzelnen Individuen über Gruppen, Gesellschaften, Staaten und Nationen bis hin zu den trans- und internationalen Akteuren.
In Europa hat man sich in den letzten zwei Jahren deshalb schon fast daran gewöhnt, dass Regierungen kommen und gehen und die Wiederwahl von Amtsinhabern nicht mehr die Regel ist.
Wie sollten Liberale in einem solchen Kontext wirken? Sie sollten sich auf die Suche begeben nach einem Politikmix, der Entschleunigung ebenso in den Blick nimmt wie kluge adaptive Aktionsprogramme, die den Menschen und die Gesellschaft nicht überfordern, ihre Engagementkräfte stärken und Verantwortung zum Leitprinzip für Programme macht, in denen Geld ausgegeben wird, dessen Finanzierung erst durch kommende Generationen zu leisten wäre.
Von all dem scheinen wir weit weg zu sein. Ich fordere keineswegs Prinzipienreiterei, das wäre nicht liberal, was wir aber als Liberale fordern sollten, wäre Haltung. Haltung, aus der heraus Hypes der Medienwelt abgewehrt werden können. Haltung, die mit klaren Fragen und Hinterfragen die Wirkungen politischer Programme in den Blick nimmt und sich nicht durch Wahltermine zu Kurzschlussreaktionen verleiten lässt. Haltung, die zeigt, dass man in Krisen Charakterstärke beweisen kann und der Vernunft die Oberhand über die Emotionen gibt. Haltung, die zeigt, das Respekt und Würde vor dem Einzelnen und für sich selbst das Miteinander gestaltet. Haltung, die zeigt, dass Würde und Humor, Respekt und Lockerheit im Umgang eine überzeugende Mischung eingehen. Haltung, die basale Werte in sich trägt und im Politischen sich genauso zeigen wie im Privaten.
Eine solche Haltung findet sich nicht oft und stellt sich auch nicht so einfach ein. Sie anzustreben, sollte aber der Ehrgeiz eines Liberalen sein. Und ein Liberaler sollte sich nicht nur im politischen Bereich als solcher verstehen. Die Bühne der liberalen Haltung ist das Leben und somit nicht nur und auch nicht notwendig das politische Feld. Aus diesem Haltungsbewußtsein heraus wird man sich darüber klar sein, dass ein Hallodrie im Privaten sich dem Wähler nicht als verlässlicher Fels in der Krise verkaufen sollte. Selbstbescheidung empfiehlt sich gerade den Liberalen. Für den Fortschritt zu sein, hat doch nicht automatisch zur Konsequenz, dass man auf der richtigen oder gar besseren Seite des Lebens steht. Woraus sollte dieser Übermut denn sich speisen? Es gibt keinen linear verlaufenen Fortschritt. Demut gegenüber der Natur und der Entwicklung wäre der rechte Begleiter der Selbstbescheidung. Selbstbewußtsein und Ernsthaftigkeit fordert dagegen das Prinzip von Verantwortung. Offenheit gegenüber dem Neuen und dem Anderen ist die Schwester der Freiheit. Zivilcourage ist das Schwert der Freiheit. Beliebigkeit dagegen ist der Schleifstein der Freiheit. Und der Wissensdurst ist die Voraussetzung der Erkenntnis
Rainer Werner Fassbinder war ein Filmemacher, der bedingungslos das Politische im Privaten suchte und thematisierte. Liberale sollten mit dem gleichen Eifer in jedem Lebensbezug die Herausforderung für eine liberale Haltung suchen und umzusetzen versuchen. Dazu braucht man kein Parteibuch. Dazu braucht man kein Feindbild. Dazu braucht man nur die beständige kritische Reflexion des eigenen Tuns und Wirkens.
Und wenn sich der so gelungen skizzierte Ich-Bezug der Jugend (s. Christiane Florin, Ihr wollt nicht hören, sondern fühlen, Die Zeit 16. Mai 2012 ) dahin gehend umformen ließe, wären wir doch wieder der Zukunft zugewandt.

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